fehlende kontrolle

 

Hinter Lilly schlängelt sich auf der Bergstraße eine Schlange an Autofahrern hinter dem Bus die Straße nach oben. Ihr Vater hält die Tür auf, sie schreitet ihm langsam entgegen, wie eine Königin am roten Teppich, während sie krampfhaft versucht ihren Mittelpunkt schwerkraftgerecht auszubalancieren und die konzentrierte Anstrengung in ihrem Ausdruck sichtbar wird. "Was ist denn mit dir los? Geht das auch schneller? Hallo." begrüßt er sie.

 

 

"Hallo. Nein. Ich hab Muskelkater vom Training gestern. Kann mich kaum bewegen.", schwindelt sie, weil sie keine brauchbare Erklärung für ihren Zustand hat und intensivst hofft, dass er sich verflüchtigt und jeden Augenblick wieder auf Normalprogramm umgeschaltet wird. Lilly schleppt sich hinter ihm her und fällt zurück, obwohl er schon langsam ist. Es stellt sich heraus, dass er nur zufällig zum Rauchen an der Tür stand und sie eine Stunde zu früh da ist.

 

 

"Das kann nicht sein. Glaub ich nicht.", weist sie diesen Zustand von sich, denn das hat es in ihrem ganzen jungen Leben noch nicht gegeben. Ihrem Vater gegenüber war sie immer einen Deut zu spät. Lilly sucht vergeblich die Fernbedienung, um sich von diesem sehr schlechten Sender auf ihr gewohntes Programm zu switchen. Sie läuft außerhalb ihrer Spur und läuft neben sich selbst her. Die Oma liegt in einem Bett, mit einer Puppe in der Hand, ohne Gebiss, weil ihr gesamte Zahnreihen entfernt wurden. Sie schaut Lilly an, kennt sie nicht, sagt aber liebevoll ihren Namen.

 

 

Lilly muss weg. Sie weint innerlich, will ihre junge, blonde, arbeitsame, lebensfrohe, immer schicke und geschmückte, fröhliche, freche Oma so nicht sehen und lässt sich ein Taxi vor den Eingang kommen. Lilly kommt sich schwerer vor. "Nicht mal ein Foto von ihren vielen Reisen hängt da drinnen.", ärgert sich Lilly, verabschiedet sich und ist innerhalb von wenigen Minuten am Graben, wo sie nur noch über den Taubenmarkt muss, um zum Einkaufscenter zu gelangen, wo im oberen Geschoß jemand auf sie wartet.

 

 

Anfangs gelingt es halbwegs, die Beine über die Pflastersteine auf gewohnten, weil 1000 Mal in verschiedensten Stimmungen und Zuständen gelaufenen Weg, zu bewegen, doch dann sucht sie die Nähe der Mauerwände, um etwaigen Schwindel und Ungleichgewicht abfangen zu können und nicht aufzufallen.

 

 

Sollte sie es nicht mehr bis zum Einkaufscenter schaffen, kann sie eine Straße vorher abbiegen und sich zu ihrer Wohnung schleppen. Vor der Spiegelwand der Shopping-Mall kommt eine gute Freundin auf sie zu, aber läuft an Lilly vorbei, als wäre sie unsichtbar.

 

 

"Brigitte.", ruft Lilly verwundert. Diese hält an und umarmt sie kurz, entschuldigt sich aber gleich wieder, weil sie weiter muss, während Lilly immer noch damit beschäftigt ist, ihren Körper dazu zu bringen, ihrem inneren Befehl zu folgen, die Hand anzuheben und nach vorne zu reichen. "Autsch, ich hab so einen Muskelkater, dass ich nicht mal die Hand heben kann.", überspielt Lilly ihre fehlende Kontrolle über ihre Muskulatur.