Tröpfchen-infektion

 

 

Lilly lässt sich von ihrer Tochter wieder auf das Sofa begleiten und tut so, als wäre alles halb so schlimm. Sie ignoriert das schmerzhafte Stechen an der Hinterseite ihrer Augäpfel, als würde jemand mit kleinen Stecknadeln dahin herumstochern und die dumpfen, verzögerten Töne, die sie wahrnimmt, genauso die Tatsache, dass sie auch nicht mehr selbständig aufrecht sitzen kann und sich an zwei Seiten anlehnen muss, wie ein Baby.

 

 

Sie hat ja tatsächlich überhaupt keinen Schimmer, was gerade abgeht mit ihr. Eigentlich wartet sie jeden Moment darauf, dass der Schwächeanfall vorübergeht und alles wieder funktioniert. Bis zu dem Moment, wo ihr Geist vor dem inneren Auge, eine Szene ablaufen lässt, die sie schon vergessen hatte:

 

 

Sie stieg vor zwei Tagen in ein volles Zugabteil auf der Rückfahrt von Frankfurt nach Linz. Üblicherweise sitzt sie gerne in der Nähe von lebendigen Schulklassen, die fröhlich und laut sind, dieses mal war aber ein Platz gegenüber einer wahrlich schaurigen Person frei, den sie wie ferngesteuert einnahm, obwohl sie wusste, da gehört sie nicht hin.

 

 

Wie fremdgeleitet saß sie trotzdem dort und erschrak, als sie diese vermummte, schmutzige, nach Alkohol, Urin und Verwesung stinkende Figur ansah. Immer noch wäre die Möglichkeit gewesen, den Platz zu wechseln -direkt zur Schulklasse hin. Sie sah über den Lehnen, dass zwei Plätze frei waren, aber sie war nicht sie selbst - willenlos und passiv.

 

 

Mit Abscheu und Ekel betrachtete sie den verdreckten Schal, den dieser Mann vor ihr, um die untere Hälfte seines ledrigen Gesichtes gewickelt trug. Ihr Herz klopfte schneller. Er musste ihre Unruhe bemerken. Sie hielt sich die linke Hand vor den Mund. Sein Gestank war unausstehlich. Sein Kumpane neben ihm, tat es ihm gleich, hatte aber keinen Schal vor seinem Antlitz, aus dem gelbe Zähne zwischen den rauen, aufgerissenen Lippen lugten, als er, wie ein wilder Wikinger im Suff, etwas Unverständliches von sich gab und grinste. Lilly kam vor, er forderte den anderen auf, zu gehen, was ihr sehr recht gewesen wäre.

 

 

Genau, als ihr widerliches Gegenüber den Schal von seinem ungewaschenen Gesicht zog und sich nach vorne beugte, blickte sie ihm direkt ins Gesicht und wie gebannt in seine großen Augen. In dem Moment fing er an zu Husten. Dann standen beide auf und verließen das Abteil, mitsamt dem grauenhaften Gestank, der an ihnen haftete.  Ihr lag ein leichter Brechreiz im Hals, sie achtete darauf, nichts zu berühren, was er berührt hat und hatte lange noch diese beiden Gestalten im Kopf. Sie schaute zum Fenster raus und überlegte, warum sie in so einem Bummelzug saß, der an jeder kleinen Station anhielt und später ankam, als der IC, der später losfuhr.

 

 

Die energiegeladene Schulklasse bereitete sich aufgeregt aufs Aussteigen vor. So viel gute Laune und Lebendigkeit zauberten Lilly ein Lächeln ins Gesicht, lies sie tief durchatmen und zurücklehnen. Sie entspannte sich total, vergaß diese beiden unheimlichen, schaurigen Gestalten.