anfang vom neubeginn

 

 

 

"Autsch. Kannst du mir den Nacken massieren. Ich werde wahnsinnig.", Lilly krümmt sich vor Schmerz und ruft laut durch die 120-m2-Altbauwohnung mit den weißen, raumhohen Kassetten-Doppeltüren nach ihrer Tochter. "Es hat mich voll erwischt. Nie wieder trainiere ich bei offenem Fenster.", schimpft sie über das günstige Fitness-Center, wo sie gerade ein Probetraining absolviert hat, fix der Meinung, sie sei verkühlt.

 

 

Der höllisch-grausame Schmerz drückt sie in den weichen Kopfpolster vor ihr. "Normalerweise hilft mein Wollschal, wenn es mich erwischt hat", lobt sie ihre unumstößliche Robustheit. "Drück mal da drauf.", zeigt sie ihrer Tochter den kleinen Punkt, von dem sich ein ungekannter, teuflischer Schmerz über ihren Körper das Rückrat hinunter ausbreitet.

 

 

Lilly möchte sich verkriechen, krümmt sich, möchte aus ihrer Haut schlüpfen, um dieser Folter zu entgehen. Sie nimmt einen gewissen Pegel an Schmerz gelassen hin, meckert nie, bei Knochenbrüchen oder Zerrungen, erträgt Geburten ohne Jammern - aber das fühlt sich an, wie innerliches Zerfressenwerden. Die Tochter versucht ihr bestes, scheint aber massivst erschrocken aufgrund der Unfähigkeit ihrer Mutter, ihren Körper stillzuhalten, als würde sie sich gegen etwas Unsichtbares wehren, verteidigen.

 

 

"Irgendwas stimmt nicht. Das ist nicht normal." bricht Lilly die Berührungen Talisas in ihrem Nacken ab, um sie nicht noch mehr zu verwirren. Sie geht. Lilly muss sich rasch nach vorne krümmen, um die Stirn in den Schoß drücken zu können, und mit einem Kissen den weit aufgerissenen Mund zuzustopfen, um ihren langen Schrei vor Schmerz zu dämpfen. Vor Schwindel im Kopf, völlig erschöpft kippt Lilly zur Seite, bleibt zitternd liegen. Es lässt nach. "Was war das bloß?", ihr kommt es vor, als wäre etwas in sie eingedrungen durch den Nacken, und hat Besitz von ihr ergriffen. Sie tastet die Stelle ab. "Nichts."

 

 

"Mama?", fragt vor der Tür eines der Engel nach. "Passt schon, Talisa. Es lässt nach. War ein bisschen Alien, oder?". Lilly rührt sich nicht mehr, wacht erst am nächsten Tag wieder auf. Bevor sie den Befehl zum Aufstehen gibt, beobachtet sie, was ihr Körper überhaupt macht, oder eine Bewegung schmerzen würde.

 

 

"Schmerzfreiheit ist ein Geschenk.", sie steht auf, zieht sich an, erledigt ihre Termine. Unter anderem  soll sie auch zum Elterngespräch mit der Klassenlehrerin ihres Sohnes, weiters den Vater treffen, für einen Besuch bei Großmutter.

 

 

Sie sitzt vor der Lehrkraft. Lilly ist anders. Sie hat Gedanken, die sie zuvor nie hatte. Üblicherweise ist sie eine Ausgeburt an ansteckender Begeisterung und naiver Lebensfreude. Im Insgeheimen bedauerte sie nun diese Frau, welche bestimmt sehr motiviert in die Ausbildung gestartet ist, studiert hat, ihre Prüfungen abgelegt und mit Stolz Pädagogin wurde, nun sich 40 Jahre lang in diesem prähistorischen Schulhaus aufhalten muss, mit rund 25 Kindern anderer Personen in ein Klassenzimmer auf 30 m2 zusammengesperrt.