empfindungslosigkeit

 

Lilly erwartet innere Freude, als sie das hübsche Antlitz ihrer Freundin vor sich sieht, normalerweise hüpft ihr Herz, aber sie wartet umsonst. Sie berührt, erreicht Lilly nicht, was ihr aber scheinbar nicht auffällt. In der Spiegelwand sieht Lilly auch ganz normal aus, also hat die Freundin nichts falsch gemacht. Brigitte geht weiter ihren Weg in die entgegengesetzte Richtung.

 

 

Lilly hofft, dass sie sich schon so weit entfernt hat, dass sie nicht mitbekommt, wie sie gleich fallen wird. Sie liegt eigentlich schon am Boden - geistig - aber der Körper fällt noch nicht um. Lilly hat noch Millisekunden Zeit, im Gastgarten auf der anderen Seite, wo üblicherweise ständig Bekannte sitzen, abzuchecken, ob ihr wer beim Wieder-Aufstehen behilflich sein könnte. Negativ.

 

 

Sie sieht ich im Schaufenster noch aufrecht stehen. Entgegenkommende könnte sie greifen, um sich abzufangen...wenn sie ihre Hand eine Ellenlänge anheben würde. Sie schwankt nicht, aber weiß, dass sie fallen wird. Ihr Körper steht aufrecht, wie ein Beistift, den man ausblanciert in die Vertikale aufgerichtet hat. Die geringste Bewegung würde die aufgestapelten Knochen umwerfen. Die Menschen gehen an ihr vorbei. Lilly fürchtet sich aber nicht vor dem Schwung der Vorbeilaufenden, obwohl da natürliche Angst sein müsste. Sie empfindet nichts und weiß sie wird fallen, doch wartet sie ab, wie.

 

 

Da ist er - der Knick ihres Knies, wo sich der Oberschenkelknochen nicht mehr aufrecht halten kann und mit dem Unterschenkel zusammenklappt. Das andere Bein steht noch. Sie klappt mit aufrechtem Oberkörper zusammen, wie ein Kartenhaus. Im Spiegel sieht dies ordentlich verrenkt aus. Sie sieht ihre Beine und Gelenke verdreht ineinander verhakt zusammengeklappt am Boden liegen, während sich ihr Oberkörper noch aufrecht hält.

 

 

Die Arme und Hände tun nichts - die hängen wie Jackenärmel an ihr dran. Ihr Kopf hält sich unbeweglich aufrecht. Eine Bewegung würde den Oberkörper nach hinten oder vorne auf den Asphalt donnern lassen, ohne dass sich Lilly schützend mit den Händen auffangen könnte. So hält dieses fragile Konstrukt aufrecht, während sie im Spiegel ihre verdrehten und umgeknickten Knie- und Fußgelenke betrachtet und sich wundert, nicht zu schreien. "Das muss doch weh tun!".

 

Einige Personen gehen an ihr vorbei, als wäre sie unsichtbar. Von den Bekannten gegenüber guckt nicht mal wer zu ihr rüber. Sie wundert sich, über was diese Menschen wohl sprechen, wenn vor ihnen wer derart zusammenknickt und am Boden verharrt. Es sind Macrosekunden der bittersten Erkenntnis.

 

 

Es laufen eine Frau und ihr Mann auf Lilly zu, greifen ihr beide jeweils unter die Arme, um ihr aufzuhelfen, doch lassen die Arme wieder nach unten fallen, als sie erschrocken die Empfindungs- und Bewegungslosigkeit der Arme und Beine bemerken. Lillys Oberkörper kommt aus der Balance, sie droht auf den Boden zu prallen. Die beiden reagieren zumindest so schnell, dass Lillys Schädel der Knall erspart bleibt.