tabletten-terror

 

 

"Was ist Sedierung?", überlegt Lilly angestrengt. "Sie meint doch wohl nicht mich damit?". Sie beschließt sich nicht weiter damit zu beschäftigen. Sie denkt nur ans Essen und wie sie es anstellen kann, dies, ohne zu Kleckern in den Mund zu bringen. "It´s Physio-Time!", ruft Lilly innerlich, der clownhaften Gesichtsmuskel-Trainerin zu, als diese an der Tür zu ihrem Zimmer erscheint.

 

 

Unhörbar natürlich, da sie ihre Stimme immer noch nicht zurückhat und das lange Beatmungsteil von der Kuhle am unteren Ende des Halses bis tief in ihrer Brust steckt. Um die überstandene Parese Facialis in den Griff zu bekommen, wieder zu einer gewissen Mimik zu gelangen, werden der Patientin bestimmte Übungen vorgemacht und Lilly imitiert diese anschließend, ebenso wird ihre Sprechfähigkeit mit gezielten logopädischen Übungen trainiert.

 

 

Während Lilly sich auf die Aufgaben konzentriert, schüttet ihr die Dame in Weiß blaue Farbe in ihr Glas mit Wasser, welches Lilly dann nicht mehr trinkt. Die Komik-Frau gerät in innere Aufregung, guckt Lilly strafend an, bevor sie mit einem Ruck ätzend-gallige chemische Magenschoner-Säure ins heiß begehrte Fruchtjogurt mischt und umrührt, was Lilly dann auch nicht mehr isst. So bleibt auf ihrem Tablet nicht nichts mehr übrig, was einem Frühstück nahekäme.

 

 

Die Frau verlässt aufgebracht den Raum. Lilly sieht, wie sie bei ihrem zuständigen Oberarzt verpetz wird, was der gelassen hinnimmt, und die Frau noch mehr empört. Lilly verspürt die ersten Lachimpulse in ihrem Zwerchfell. Sie wird noch fast 20 Minuten sitzen gelassen, bis sie sich vor Erschöpfung nicht mehr aufrecht halten kann. Plötzlich stürzt die vor Energie und Lebensfreude strahlende Ergotherapeutin in den Raum, setzt sie um, und macht gleich weiter mit den körperlichen Übungen, die heute Ball-werfen beinhalten.

 

 

Es macht Lilly sogar Spaß, jedoch hat sie gerade nur das Verlangen nach Essen. Sie zählt die Stunden, bis zur nächsten Mahlzeit, wird wieder ins Bett gelegt. Warten. Außerhalb des Raums tobt sich der Hochsommer mit strahlendem Schönwetter aus, wie sie durch das Zimmerfenster erkennt und neidisch wird auf alle, die nach Dienstschluss in der Sonne liegen und ins Schwimmbecken hüpfen können.

 

 

Bei der nächsten Mahlzeit sitzt die Frau wieder bei ihr. "Kommt die jetzt jedes Mal dazu?", verzweifelt Lilly beim Anblick ihrer Gesichts- und Sprachtrainerin. Sie macht ihr wieder die gleichen Albernheiten vor, wie gerade eben beim Frühstück, solange bis sie wieder anfängt, Drogen in das Essen schüttet, näher rückt, es in der Hand hält, ihr eindringlich erklärt, dass ich genau die richtige Dosis einnehmen müsse, da dies unbedingt so abgestimmt ist. Sie versucht, Lilly mit dem kleinen Löffel zu füttern, doch gleitet ihr der Becher aus der Hand, verschüttet alles.

 

 

Lilly ignoriert sie und gibt sich ihrer inneren Vision hin, sich mit offenem Mund in die Hauptmahlzeit fallen zu lassen. Sie hat Hunger, als hätte sie hundert Jahre nichts gegessen.