neue augen - neue seele

 

Sie kann sich beim Husten schon selber aufsetzen. Bald wird sie wagemutig und lässt die Stöcke weg, hält sich an Bett, Sessel-Lehne und Türgriffen, bis zur Tür des Sanitärraumes. "Was für eine Freiheit - selbst zur Toilette zu gehen.", freut sich Lilly stolz und genießt das erhebende Gefühl von Intimsphäre. Wenn sie sich im Spiegel betrachtet, kommt ihr vor, sie sieht sich mit anderen Augen als zuvor. Unbekannt, aber neu und aufregend. Sie ist gespannt, was das neue Leben bringen wird, ist bereit in fremden Gewässern zu neuen Ufern zu segeln auf dem Schiff ihres neuen Lebens. 

 

 

Übers Wochenende wird ihr ein Ergometer ans Bett gestellt, auf dem sie täglich immer wieder 5 Minuten üben soll. Sie fährt 45 Minuten. Es gibt immer noch kein Schwitzen - wahrscheinlich liegt noch der ganze Restmüll an zerfressenen Zellschichten im Gewebe und verstopft die Poren. Sie will den Ruin endlich aus ihrem Körper haben.

 

 

Die Haut wirkt noch taub, die Finger sind ungeschickt, können aber schon leichte Dinge, wie Löffel oder Glas halten, umblättern, Toilettpapier abreißen, den Slip raufziehen, die Zähne putzen. Sie fühlt sie ausgelaufen und abgeflacht, wie eine winzige schwerelose Fee auf ihrem Flug durch farbige Blätter einer Sommerwiese. Drei Schritte im freien Raum stellen kein Problem mehr dar.

 

 

Die energetische Physiotherapeutin von der Intensiv-Station kooperiert mit dem großgewachsenen, stattlichen Physiotherapeuten der Neurologie. Können im Doppelpack - ohne Assistenten diesmal. "Perfekt.", freut sich Lilly jedes Mal, wenn er durch seine Brille, immer einen anderen grauhaarigen Menschen am Arm, reinguckt und mit den Fingern der freien Hand, die in Plastikhandschuhen steckt, mit leichtem Fingerspiel á la Jack Sparrow, der als Piratenkönig mit den Münzen jongliert, diese Begrüßung unterstreicht.

 

 

Seine Foltergeräte bestehen aus einem großen, quadratischen Trainingspolster, den er gleich in der Nähe oder am Bett liegen lässt und Bändern aus elastischem Material. Die Physiotherapeutin, mit einer Stimme, die so kräftig aus ihrem starken Brustkorb kommt, dass Lilly der Neid frisst, freut sich, die zu Behandelnde mit Kniebeugen am Bettrand und Treppensteigen-Übungen zu quälen. Es könnte nicht besser laufen.

 

 

Beide gehen mit Lilly am langen Gang der Station vor und zurück, um die Ecke bis zur Terrasse und wieder retour. Sie beobachten jede kleinste körperliche Reaktion, die auf Erschöpfungszustände hinweisen könnten, als hätten sie auch am Hinterkopf Sensoren für müde Augen, Zittern in den Gliedern oder höhere Atemfrequenz. Um ihr den Rollator abzugewöhnen, schiebt er diesen immer einige Meter vor, damit sie ihm frei nachgehen muss.