picknick im prater

 

 

 

Ein T-Shirt über Kopf anzuziehen ist durchaus alleine möglich, doch das Ausziehen eine tägliche Herausforderung. Vor allem die rechte Seite ist kaum mehr als in Ohrenhöhe hochzubekommen. Die Therapeutin macht dies eventuell mit dem erst kürzlich gestochenen ZVK zusammenhängen, dessen, sowie auch die Einstiche auf der anderen Seite noch klar zu erkennen sind. Auch die Handgelenke und Ellenbogen lassen sich im Bewegungsablauf bitten und wirken noch starr.

 

"An eurer Stelle wäre ich auch sauer - nach so einer Kreuzigung.", spricht ihnen Lilly gut zu. Die Logopädin beobachtet ihr Sprech- und Schluckvermögen.

"Stimme. Persona. Durchklingen." erklärt sie beiläufig. Lilly hat sich da noch nicht richtig gefunden. Es sitzt der Klang auf Höhe des Einstiches am Hals fest, die Laute bekommt sie weder sprechend noch singend über diese Schwelle in höhere Sphären.

 

 

Im Zimmer bekommt Lilly eine neue Bettnachbarin. Sie ist gut gelaunt, steht lange Besuche durch, mit Leuten, die ihr ganzes Beziehungsleben vor ihr ausbreiten. Sie nimmt sich vor, darauf zu achten, dass ihr so etwas bei Krankenbesuchen nie passiert. Jedes Mal, wenn der Besuch das Zimmer verlässt, wirkt sie froh über die Ruhe und schläft.

 

Seit mehr als 5 Wochen war Lilly nun schon nicht im Freien, will aber zu einem bereits fixierten Verabschiedungstermin in Wien, wo eine Freundin für immer nach San Franzisko auswandern wird. Deshalb kündigt Lilly bei ihrem zuständigen Arzt, einen geplanten ersten Sonntagsausgang an. Er empfiehlt ihr, sich vorerst nur im Café mit angrenzender Grünfläche im Erdgeschoß aufzuhalten und nur in Begleitung. Sie sagt zu.

 

 

Am nächsten Sonntag trägt sie sich in die Ausgeh-Liste ein. Sie wird fast pünktlich von ihrer Tochter abgeholt, direkt vor der breiten Schiebetür. Einsteigen und Sitzen sind nicht schwierig, die Herausforderung ist das Austeigen und Aufstehen, was ohne kräftiges Ziehen nicht möglich ist. "Falle ich um, komme ich also gar nicht alleine hoch.", stellt sie erschrocken fest.

 

 

Sie fühlt sich frei und gut, aber ausgelaugt und fremd, wenn sie sich im Rückspiegel betrachtet. Nach eineinhalb Stunden erreichen sie das Pratergelände in Wien - natürlich an dem Ende, wo das Abschieds-Picknick nicht stattfindet. Der Fußmarsch zieht sich aufgrund Lillys Schrittlangsamkeit über mehr als eine Stunde, unterbrochen von jeder auf dem Weg liegenden Parkbank. Manchmal stützt sie sich am angewinkelten Unterarm ihrer Tochter ab. "Die Leute glauben sicher, ich bin blind. Oder betrunken.", lacht sie.

 

 

Sie bringen ihre Mutter tatsächlich mitten auf eine offene Wiese, damit sie sich von einer Freundin verabschieden kann. Als sie sich hinsetzt und dann nicht mehr alleine aufstehen, um wen zu begrüßen, fällt erst auf, dass sie gerade aus der Intensiv-Station in die Neurologie verlegt wurde und extra angereist ist. Ab dem Moment erzählte jeder seine bereits erlebte Krankengeschichte und sie bekamen die größten und besten Stücke vom Kuchen.