Geruch der freiheit

 

 

 

"Tja, ich bin ein Pflegefall.", stellt Lilly fest, als sie nach einem Picknick im Grünen - wo sie logischerweise gemütlich am Boden saß, wie alle anderen auch - fürs Aufstehen Hilfe anderer brauchte, um gerade in die Vertikale zu kommen. "Danke. ". "Bitte gern." verabschiedet sich der kräftige Mann, der sie hochgehoben hat und aufgestellt, weil die Kraft ihrer Tochter nicht ausreichte, um sie hochzuziehen. Sie denkt an die 4-6 Wochen, von denen die Rede war, bei der Diagnose und Prognose, von der Reha sprach damals keiner.

 

 

Da der Ausgang mit wenigen Stunden befristet war, haben sie es jetzt eilig, die eineinhalb Stunden zurück zum Auto hinter sich zu bringen. Während der Rückfahrt gibt sie im Krankenhaus über die geplante Ankunftszeit Bescheid, damit sich niemand Sorgen macht. "Du bist gar nicht mehr, wie früher. ", kommentiert der Achtjährige den Tag, und Lilly ist froh, dass sie Sonnenbrillen trägt.

 

 

Drei Stunden später als geplant, treffen sie in der Station ein, knapp bevor die Schwestern dies melden wollten. Die Kinder verlassen die Hölle und sie sieht ihnen noch nach, wie sie sich in der warmen Sommernacht auf den Weg zum Auto machen.

 

 

"War es schön?", fragt die Bettnachbarin. "Ja.". Lilly steht noch lange am Fenster. Die Frau lässt ihr ein paar Minuten. "Sie hatten Besuch.". Am Beistelltisch bemerkt Lilly Magazine, frische Früchte, Kekse und Fruchtsaft und kann weiß, wer hier war und nun die fast täglichen Besuche ein wenig einschränken wird. Sie legt sich seitlich hin, damit sie durchs Fenster den nächtlichen Sommerhimmel sehen kann. Nach und nach tauchen Sterne wie Blitzlichter am Firmament auf, die die Namen ihrer Kinder in die Luft schreiben.

 

 

Der Geruch der Freiheit auf ihrer Haut verflüchtigt sich wieder so schnell, wie der Kerosinstreifen des Flugzeugs, das sich zwischen den Sternen den Weg irgendwo anders hin bahnt. Sie schläft nicht ein, betrachtet das Foto ihrer Kinder und den selbstgebastelten Engel, der inzwischen von der Wand gefallen ist und nun in der geöffneten Lade liegt. Bald schon kündigt reges Vogelgezwitscher und ein lachs- und roséfarbener Streifen den neuen Tag an.

 

 

Der Tagesablauf beginnt um 6.00 mit einem "Guten Morgen.", Wasserglas wechseln, Reinigung, Fenster zu oder auf, Rollo vorbeugend runter, Morgentoilette, Aufbetten, Visite, Menübestellung, Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Mittagessen, Anmeldung zur Reha, Blutdruckmessen, Reinigung der Sanitäranlagen, Nachfüllen der Handtücher und sonstigem Bedarf, Ruhe, noch eine Physio- oder Psychotherapeutische Einheit, Besuchszeit, Abendessen, Thrombose-Spritze, TV, Radio mit Kopfhörern und endet im besten Fall mit Einschlafen.

 

Sie hatte ihre Kinder jetzt 6 Wochen nur sporadisch gesehen und die 3 Wochen davon den Kleinen und die Jüngste gar nicht. Sie wurde aus dem strammen Tages-, Wochen-, Monats- und Jahresprogramm, so wie es seit 21 Jahren lief, gerissen, und weiß, es wird nie wieder so werden, wie zuvor.