anatomiekunde

 

 

Sie öffnet gern das Fenster im Leseraum, denn sie inhaliert gerne die Luft und Geräusche, die von den Menschen und Schanigärten der Weinlokale, Vernissagen, Konzerten... in den Raum dringen. Sie genießt den Duft des Sommers, die Wärme, das Angefüllte, Satte in der Luft.

 

 

Inzwischen kann sie mehrere Stunden hintereinander wachbleiben, ohne sich niederlegen zu müssen. Die Wachphasen gliedern sich in einen Vormittagsblock, Nachmittagsblock und Abendblock, die jeweils durch Mahlzeiten und kurzer Ruhepause unterbrochen sind.

 

 

Lilly wird zum ersten Mal die Lungenthematik erklärt, da sie gerne den transparenten Wasserball aus Plastik, denn sie seit der Aufnahme in ihrer Tasche mitträgt, aufblasen möchte - dies aber nicht kann. Die Ärztin veranschaulicht das Bild einer Lunge nach einer Atemlähmung und künstlicher Beatmung, durch das Bild einer ausgelassenen Luftmatratze, die lange zusammengedrückt verstaut gelagert war und die man erst wieder ausbreiten, glätten und aufblasen muss.

 

 

"Gibt es eine Bibliothek?", erkundigt sich Lilly, und stellt fest, dass sie schon in der Lage ist, selbständig bis zum Lift zu gehen - an den Wänden sind meist Stangen angebracht - die Ruftasten zu drücken, sich haltend ins Erdgeschoss befördern lassen kann. Von dort aus geht es vorsichtig von der Lifttür über ein freies Foyer an die nächste Mauer, wo sie in einer kleinen Fliesenerhebung ihre Fingerspitzen einkrallen kann, an Sitzgelegenheiten vorbei, bis zur Glastür der Hausbibliothek.

 

 

"Wow, das ist ja eine Auswahl.", staunt sie über die umfangreiche Sammlung. Mit circa 25 m2 ist es eher Notting Hill, als Stadtbibliothek, aber sie weiß gar nicht, wo sie anfangen soll. Ein Anatomie-, ein Ärzte-Witzebuch, einen Titel über eine ORF-China-Korrespondentin lässt sie sich aufs Zimmer bringen. Sie vertieft sich - wieder oben angekommen - in die grafischen Abbildungen des menschlichen Körpers, speziell der Lunge. "Das ist ja ein Riesen-Ding.", fällt ihr zum ersten Mal so richtig auf.

 

 

Die Diätologin lockert am nächsten Tag den Speiseplan auf: dazu kommt Karottensaft und Roter-Johannisbeer-Saft und groebere Kost. Sie kommt sich aufgrund dem Unverhältnis Muskulatur-Gravitation vor, wie 100 Kilo. Sie wird täglich gewogen, soll auf 52 Kilo kommen. Am Teller hat sie jetzt ergänzend zu Apfelmus, leichtem Bisquitkuchen, Jogurt und Kartoffelpüree, leicht zerfallenden Tafelspitz liegen, oder auch mal ein kleines Stück Braten mit milder Soße und einem Semmelknödel. "Was kann es Schöneres geben?".

 

Samuel hat sein erstes Kinder-Freizeit-Lager hinter sich, ebenso die eine Urlaubswoche in Italien, die ein paar Tage verlängert wurde. Er besucht sie jeden Tag, dann essen sie zusammen und lesen und gucken Nachmittags-Serien, bevor er sich mit der Schwester in die Wohnung der anderen Schwester zurückzieht. Lillys Wohnung gibt es nicht mehr - ihre Möbel, Kleidung, Unterlagen usw. wurden in ihr Jugendzimmer im Haus der Großeltern gebracht.