heisshunger

 

 

 

Meine Zimmernachbarin ist auf dem Sprung nach Hause. Sie hat ihren MS-Schub hinter sich gebracht. Lilly ist das recht, denn dann wird das Bett neben ihr frei und sie hat den Raum für sich. Sie kommt in einem passenden Moment in ihre Ecke und plaudert freundlich, während sie mit der einen Hand ihre andere ruhig hält. Sie geht im Zimmer herum und Lilly beneidet sie. Ein wunderbarer Augenblick im neuen Leben: Sprechen, glücklich sein, lebendige Menschen treffen.

 

 

Mit einem Rollator kann sie schon langsam selber bis zur Toilette gehen - sie muss nicht mehr gebracht werden. Sie kann mit Hilfe eines Hockers in der Dusche selbst die Haare waschen und den Geruch ihres Lieblings-Duschgel riechen. Das Fenster verlockt zum Rausgucken - im Stehen. Sie kann bis zur Sonnenterrasse blicken. "Muss ein heißer Sommer gewesen sein.", stellt Lilly fest. Es fühlt sich für sie komisch an, nicht dabei gewesen zu sein.

 

 

Am zweiten Tag stellt ihr eine Krankenschwester bereits Krücken ans Bett, die sie mutig ergreift und damit bis zum WC kommt. Ihr werden von den besorgten Verwandten viele Magazine, Schokis, Kekse, Fruchtsäfte, Taschengeld für die Kinder uvm. ans Bett gebracht. Es vergeht kein Tag ohne Besuch in und außerhalb der Besuchszeiten. "Was bin ich ein glücklicher Mensch.", freut sie sich immer wieder.

 

 

In den drei Wochen Intensiv-Station war es in erster Linie ihr Vater und dessen Frau, die zeigten, dass nicht gekniffen wird - auch nicht in den aller schwierigsten Situationen. Was wären die elend langen, einsamen Nachmittage in diesem kahlen, sterilen Zimmer gewesen, ohne Besucher, die ihr die kalten Füße eine Stunde lang massiert haben und gute Laune mitbrachten von draußen mitbrachten. Sie konnte wochenlang nur debil durch das einzige Fenster gucken, wo sie das Grün der Bäume sah und eine Ecke vom blauen Sommerhimmel. Das war bitter - warten, warten, warten...

 

 

Mit seinen lockeren Sprüchen und so machen Sätzen mit denen er sich selbst versichern musste, dass dies wieder anders wird: "Schöne Schuhe und geht dann schon wieder." war einer davon. "Wie frei ich mein Leben immer Leben konnte, machte immer, was mir gerade eingefallen ist.", freut sie sich sehr über ihr bisheriges Dasein.

 

 

Die Ergo- und Physiotherapeuten, der Diätologe und eine Logopädin laufen zur Hochform auf, tun ihr Bestes. Noch mehr als zuvor. Es gibt kein Zurück mehr. Jeden Tag zaubern sie neue Idee, Tricks und Übungen aus ihrem Nähkästchen - sie bewegen, trainieren, stützen, beobachten, motivieren, bekleben Lilly, die sich vorkommt, wie ein neues Paar Schuhe, die erst eingetragen werden müssen, oder wie eins der Kleider, die noch nach Herstellerfirma riechen, ein Fotoalbum mit großen, weißen, leeren Seiten, ein Pferd ohne Hufe, Zaum und Sattel.

 

 

Sie isst und isst und isst. Trinkt ohne Ende. Wieder etwas Frisches im Leib zu haben, macht lebendig - sie fühlt sich wieder zurück im Leben angekommen.