zwei glückstränen für die freiheit

 

 

Die Überrumpelungsmethode hat funktioniert - die Kanüle ist raus aus ihrem Hals. Sie ist selbst überrascht, von den gewaltigen, instinktiven Reflexen, die ihr Körper abgeliefert hat. Er scheint ein erfahrungsreicher Oberarzt zu sein und wusste genau, was kommt. Seine Sitzposition war schon so gewählt, dass er mit dem rechten Unterarm die Wucht ihrer Reflexe abfangen kann.

 

 

"Was man sich als Arzt so alles mitmacht?", wundert sich Lilly, währen ihre Fingern sich weiter in seine Muskeln bohren, das Becken zittert, und zum ersten Mal wieder Luft ungehindert von Nase und Mund in die Lunge strömen. "Sehr schlau.", er hält mit seinem Unterarm ihre Hände davon ab, an den Hals zu gelangen. Er wirkt konzentriert, routiniert, als hätte er schon tausende Kanülen entfernt. "Der Trick war gut", gibt Lilly innerlich zu und zum ersten Mal zollt sie ihm wirklichen Respekt. Er murmelt irgendwas Belangloses, was sie wiederum nicht interessiert.

 

 

"Gib einfach deinen Arm hier weg.", denkt sie immer noch stumm, wie sie es gewöhnt ist, wobei er meint, sie solle etwas sagen. Sie weiß nicht was, und ist genervt davon, dass er schon so lange Zeit, soviel Macht über sie hat. Sie krallt vor Wut noch fester, er lässt keinen Millimeter ab. Sie versucht, diese Wucht dieser ursprünglichen Reflexe in den Griff zu kriegen, das Zappeln zu beruhigen. Sie hängt mit ihren Händen an seinem Unterarm fest, wie an einer Reckstange 500 Meter über dem Meer.

 

 

Es fühlt sich alles ein wenig an, wie Zahn-Ziehen. Nun tupft und drückt er an der offenen Stelle am Hals herum. Sie hat Beiß-Reflexe, doch erreicht sie mit dem Mund seinen Arm nicht, weil er fest auf ihren Hals drückt. Ihre tierischen Schutz- und Verteidigungs-Impulse überraschen sie selbst scheinbar am meisten. Er drückt und tastet herum. Da er Angreifer und Retter zugleich ist, kämpft in Lilly der Verstand mit dem Archaischen. Ihr Kiefer wäre dazu bereit ein großes Stück Fleisch aus seiner Haut zu reißen und könnte sie irgendwo einen spitzen Gegenstand ergreifen, gäbe es nichts, was sie zurückhalten würde, auf ihn einstechen.

 

Es steigt sogar ein Spuckreflex in ihr auf, damit er die Hand vom Hals wegnimmt, um sich abzuwischen - doch auch auf so etwas wäre er wahrscheinlich vorbereitet. Das ist schließlich die Intensiv-Station hier, kein Schönheitssalon. Ihre Schultern drücken immer noch wie verrückt gegen seine Hand. Es drückt ihr eine Träne aus den Augen, die ihr an der Schläfe warm ins Haar fließt - eine zweite folgt zugleich, die der Oberarzt mit der einen Hand wegwischt (diesmal hat sogar er Handschuhe an) und so vom Hals ablässt.

 

 

Lilly will sich ja entspannen, denn es gibt nicht mal einen richtigen Schmerz - nur ein strengeres Ziehen. Die ganz, ganz feine Schicht Mensch, die sie gerade noch vom Tier trennt, bläht sich mit jedem eigenen Atemzug wieder auf, wie ein weiches Wolkenkissen am hellblauen Sommerhimmel. Wie ein nach Perlen tauchender Südsee-Insulaner atmet sie nach langem Luft-Anhalten wieder richtig durch.