1440 Minuten Pflegealltag

 

 

 

Ihre Lider kann sie ab jetzt nicht mehr selber schließen, da muss von den Schwestern nachgeholfen werden. Die Facialis Parese hat eingesetzt - was heißt, dass die Lähmung auch ins Gesicht gewandert ist. Die Pflegekräfte schaffen es, trotz geschickter Grifftechniken nicht mehr, sie fünf Mal über Tag und Nacht verteilt in den Rollstuhl zu setzen, wo ein Behälter integriert ist.

 

 

Wenn sie umgebettet wird, muss das Rutschbrett zur Hilfe genommen werden, verrenkt sich ein Gelenk oder kommt es zu Stößen, gibt es keine Reaktion von Lilly, weil der Schmerz-Impuls nicht mehr existiert. Sie fühlt nichts, sie spürt nichts. Schlimmste Verrenkungen, die aussehen, als würde jemand gleich fürchterlich losschreien, werden einfach wiedereingerichtet.

 

 

Lilly bewundert zurzeit niemand mehr, als die Pflegenden. Sie nimmt die Szenerien und Aktivitäten um sich wahr, als würde sie durch ein Schlüsselloch gucken, oder durch eine Mini-Kamera als unbeteiligte Zuseherin das Treiben beobachten. Das Blickfeld schränkt sich ein, es ist wie durch einen Tunnel sehen, mit einer kleinen Erbse im Hinterkopf, auf die sich das gesamte Bewusstsein zusammengeschrumpft hat, an der Stelle, wo die Wirbelsäule andockt.

 

 

Schließlich heben und rücken Personen, die hier täglich oder nächtlich zum Dienst anrücken, Personen mit 50 bis 80, 90 Kilo herum - da wird einiges an Gewicht in Bewegung gebracht. Es gibt außer dem Rutschbrett und Rollwägen kaum Hilfsmittel. Dazu kommt, dass die kranken Menschen, die sie da vor sich haben, nicht gerade schöner werden im Laufe des Aufenthaltes.

 

 

Lilly kann sich schon längst nicht mehr Makeup auftragen, die Brauen, Lider oder Lippen nachziehen und der ungefärbte Haaransatz wird nicht weniger, die Körperbehaarung wächst ungehindert nach, die Nägel brechen ab, die Haut wird trocken, der Sonnen- und Tageslicht-Mangel macht den Teint bleich und fahl, die nicht ausgeübte, körperliche Betätigung und das ausgesetzte Fitnesstraining machen den Körper schlaff.

 

 

Das Wichtigste ist wohl gerade dieses bewegliche Bett, in dem Patienten in verschiedene Ebenen gelagert werden können. Dieses immer am Hinterkopf liegen, ewig in der Horizontale aufbewahrt zu werden, macht den Kopf innerlich zunichte. Es funktioniert keine Ortung mehr, kein Gleichgewichtssinn, nur noch schwummrig im Schädel und Verwirrung im schmalen Blick.

 

 

So ein Tag kann sehr lang werden: 24 Stunden, 1440 Minuten, 86400 epochale Sekunden. Einatmen, ausatmen. Dafür nur genau ein Augenaufschlag und eine Schließbewegung der Lider. Das war es. Eine der Schwestern kommt auf die Idee, ihr, bevor sie nach Hause geht, Kopfhörer aufzusetzen und die Nachtschwester nimmt die irgendwann morgens wieder ab. So hört Lilly ihren Lieblingssender im Radio - das Nachtprogramm, wo ohne Werbung beste Musik gespielt wird, einmal pro Stunde unterbrochen mit der Zeitansage und Kurz-News. "Wie genial ist das.", denkt sie sich dankbar. Sprechen kann sie schon lange nicht mehr.