Station der freiheit

 

 

"Es vergeht keine Zeit. Es vergeht keine Zeit.", sind die beiden Lieblingssätze ihrer Zimmerkollegin, bevor sich die gegen 20.00 eine Schlaftablette bringen lässt, die dann höchstens bis kurz nach Mitternacht wirkt und sie dann bis halb Vier wach im Bett liegt.  Beim Einschlafen und Aufwachen dreht sich alles nur um Eins: Wann ihr Sohn zu Besuch kommt.

 

 

Die Herausforderung ihrer Kommunikation für Lilly ist, sich möglichst viel für aktuelles und historisches Zeitgeschehen über die Tagespresse zu interessieren, weil die alte Dame sich nach jeder Mahlzeit ihr kleines, batteriebetriebenes Tischradio anmacht und dann über die Geschehnisse des Tages plaudern will. Lilly quartiert sich ins neue Bett, Sanitärraum und organisiert eine Fernsehkarte.

 

 

Der Krankenpfleger ist freundlich beim ersten Zusammentreffen auf seiner Station: "Sie sind ja gut drauf. Ihrer Patientenakte nach, habe ich mir das viel schlimmer vorgestellt.", wohin sie morgens von den gewohnten Betreuerinnen sitzend in einem Rolli mit den Akten am Schoß übergeben.

 

 

"Ob er auch gelesen hat, dass sie bevorzugt von weiblichen Schwestern gecheckt zu werden?", fragt sich Lilly. Er freut sich fast mehr als sie, dass er sie in ein so hübsches und gut ausgestattetes Krankenzimmer bringen darf. Die Tapeten sind geblümt, der TV noch vor der Flat-Revolution, der Boden mit bordeauxfarbenem Vinyl ausgelegt, der Gang ist lang, es gibt keine Sonnenterrasse, jedoch eine Sitzbank auf einem kleinen Balkon, mit Aussicht gegen Süden Richtung Bahnhof.

 

 

Von diesem Balkon, dessen Zugangstür Lilly nicht alleine aufziehen kann, führt eine Treppe zum Hubschrauber-Landeplatz, auf dem Dach direkt über den Zimmern. Wenn die Türe offensteht, aufgrund der Hitze, kann sie über die Hindernisse am Boden auf die warmen Betonfliesen treten, manchmal barfuß, und die Sommerhitze an sie rankommen lassen. Das Eisen am Geländer zum Hochplateau ist so heiß, dass sie nicht gerne hin greift, bemerkt, dass es anders ist, als wenn sie die Hand auf die kühle Reling legt. Der Begriff Schmerz muss sich erst wieder definieren.

 

 

Die heiße Wand dient bestens dazu, frisch gewaschene Wäsche in kürzester Zeit zu trocknen. Lilly fehlen die bereits gewohnten Gesichter des anderen Gebäude-Komplexes. Sie beginnt abends am Gang auf und ab zu gehen, wie ein Löwe im Tierpark. Sie startet um 21.00 Uhr, geht solange, bis die Stunde voll ist, womit sie vermeidet dem langgezogenen Einschlafritual der Zimmergenossin beiwohnen zu müssen. Sie geht auch seitwärts, über Kreuz, rückwärts.

 

 

Davor holt sie sich den Schlüssel für den kleinen Fitnessraum, plagt sich auf den Sitz des Ergometers und tritt halbenergisch in die Pedale. Sie wiederholt auch die Übungen, die ihr am Vormittag in der Physiotherapiestunde gezeigt werden mit Ball, Bändern, am Wackelbrett, in Seitlage und trainiert ihre Wadenmuskulatur noch im Sitzen beim Lesen im Aufenthaltsraum bis sie schlussendlich müde ins Bett fällt und direkt einschläft.