interessanter zustand

 

 

 

Sie ist es inzwischen gewohnt, durch die Fensterluke an der Tür von gaffenden und kontrollierenden Spezialisten-Augenpaaren angestarrt und begutachtet zu werden, wie der hässliche Elefanten-Mensch am mittelalterlichen Marktplatz, bevor er von einer primitiven, grölenden Menge mit dreckigen Gesichtern mit fauligen Tomaten beworfen wird oder wie ein Ausstellungs-Stück in der fantastisch-makaberen Sammlung "Körperwelten", denen sie inzwischen auch äußerlich schon ähnelt.

 

 

Meist regt ihr Zustand auch sogar zur Erheiterung an, wie an dem Vormittag nach der langen Apharese-Nacht, die sie ganz nebenbei von einer Patientin zum Versuchskaninchen für die Durchlässigkeit und Haltbarkeit verschiedener Katheter und Kanüle werden hat lassen und ein Chirurg nicht fähig war, ordentlich zu stechen, so dass schlussendlich alle Stellen an den Unterarmen aufgeschlitzt waren und er plötzlich mit einem Skalpell um die Ecke kam und am Hals weitermachen wollte, woran ihn dann verständlicherweise und zum Glück eine Schwester gehindert hat.

 

 

Bald erbarmt sich der behandelnde Oberarzt meiner, reißt sich vom heiteren Kollegenschnack los, tritt in den Raum und an Lillys Bett - ohne Handschuhe, was ihr nicht ganz geheuer war. Man gewöhnt sich an das Geräusch beim Ab- und Überziehen der sterilen Handschuhe. Es ist ja nicht so, dass die Ärzte auf der Neurologischen Station nicht auch mal die Hand geben, oder das Gesicht abtasten ohne Schutz, aber in dieser Station scheint es Lilly angemessener beide Seiten mit dem Tragen von Handschuhen zu schützen.

 

 

Sie hat Gelegenheit, seine Kleidung und die Hautoberfläche zu riechen, was große Gefühle in ihr auslöst. Scheinbar hat sich ihr Geruchssinn auch wieder erholt und beginnt, die Hormonproduktion anzukurbeln. Lilly riecht die Sonne, des heißen Sommermonats August.

 

 

"Es muss ja richtig runterheizen, wenn er so angebrannt riecht.", sie wendet neugierig ihren Blick zum Fenster hinter ihr und betrachtet mit nach hinten gedrehtem Kopf die farbige, strahlende Freiheit. Lilly hat Sehnsucht nach draußen und fühlt, wie die Lebensgeister in ihr erwachen - ausgelöst, durch Sommerdüfte, auf der Haut ihres Oberarztes.

 

 

Als er wieder weg ist und in einem der mittelalterlichen Movies einem Kämpfer das Schwert in den Hals gerammt wird, tastet Lilly die Stelle an ihrem Körper ab, wo dieser Beatmungsschlauch in ihr fixiert ist. Zum ersten Mal denkt sie darüber nach, wie es vonstattengehen soll, diesen zu entfernen. "Das muss ja inzwischen mit mir verwachsen sein.", überlegt sie besorgt.

 

 

Sie beginnt, sich bildlich und intensiv vorzustellen wie ihr diese, einst lebensrettende Maßnahme, die sie mit der Atemmaschine verbindet, wieder entfernt, also weggenommen wird und womöglich in einem Mülleimer landet, wie die versorgende Nabelschnur mitsamt dem Mutterkuchen nach einer Geburt. Sie wäre dann nur noch geschlossen auf sich selbst gestellt, mit dem was sie hat: Zwei eigene, kleine Lungenflügel.