stimmbänder-test

 

 

Da er nicht mehr an der Stelle, wo er gerade die Trachealkanüle entfernt hat, herumtastet, beginnt sie sich langsam zu entspannen. Die ersten eigenen Atemzüge machen wieder einen Menschen aus ihr. "Sagen sie was.", fordert sie der entschlossene Oberarzt auf. "Wie sagen?", denkt sie stumm, wie sie es seit Wochen gewohnt ist. Je mehr sie denkt, desto weniger heftig werden die Zappel-Impulse ihrer Hüfte, die Schultern entspannen sich, der Hals wird locker, die Krallen lassen sich vom Unterarm des Arztes lösen.

 

 

Lilly merkt, dass sie wieder die alleinige Kontrolle über ihren Körper hat, nicht mehr einer Maschine oder Pflegepersonal ausgeliefert ist. "Jetzt soll ich auch noch was reden mit ihm?", meldet sich der feminine Trotzkopf. Sie hätte ihm so viel zu sagen, dass sie gar nicht wüsste, wo anfangen. "Nein." will sie sagen, um ihn zu ärgern, doch bewegt sie zuerst mal leicht den Kopf nach links und rechts und merkt, dass diese Bewegung uneingeschränkt möglich ist. Sie fokussiert gedanklich auf ihre Lippen, tastet mit der Zunge diese von innen ab.

 

 

"Da soll jetzt wieder was rauskommen? Wie soll das gehen?" kramt sie in den vergessenen Schubladen ihrer Erinnerungen, um die Anleitung dafür zu finden. Die Liste der zurückgehaltenen Worte ist zu lang - sie sucht nach etwas Einfachem. Ihr Blick streift durch den Raum. "Schreien sie mich an." schlägt er eine Variante der verbalen Äußerung vor, mit etwas Nervosität in der Stimme, da er unbedingt die Bestätigung braucht, dass die Patientin sprechen kann. Sie wartet jetzt bloß noch auf den Klaps am Hintern, sieht aber die geöffnete Tür hinter ihm.

 

 

Sie könnte ihn jetzt ein wenig Zappeln lassen, aber da sie absolut zufrieden ist, mit seiner raschen, unkomplizierten, gekonnten Vorgehensweise, beginnt sie mit einem seichten Räuspern - was gerade das Einzige war, dass sie aus der in sich zusammengefallenen, kraftlosen Brust herausquetschen konnte. Am Halsansatz entflieht ein Teil der Luft.

 

 

Er drückt da nochmal mehr zu. Sie versucht einen Ton zu kreieren, doch verflüchtigt sich der angestrengt hochgepresste Druck an der noch offenen Stelle der Verletzung. Ein eigenartiges Gefühl - fast kommen ihr wieder die Tränen, weil keine Kraft vorhanden ist, die Luft ist fürs Husten oder Sprechen noch zu wenig.

 

Aber dies ist nicht schlimmer, als das Stimm-Gerät, dass er ihr mal an die Kehle gehalten hat, denn da hätte sie lieber lebenslang darauf verzichtet zu sprechen. Damals stellt er so eine überflüssige Frage: "Wenn ich nur wüsste, wovor sie so große Angst haben?", mit der er ihr definitiv zu nahe getreten ist - denn gerade in dem Moment, wo ein Mann mit seinen Gehilfen vor ihr sitzt, der sie aufgespießt, zu einem sprachlosen Monster gemacht hat, diese Frage zu stellen, entbehrte jeder Feinfühligkeit.

 

 

Sie wusste ja nicht, was hier vor sich geht - erklärt oder vorbereitet hat sie keiner. Zudem ist es ihr auch gleichgültig, was es braucht, um den Virus zu besiegen. Sie denkt nur an die erste Augustwoche.