wiedererlangte feinmotorik

 

 

 

"So schön ist es hier bei euch auch wieder nicht.", möchte sie ihrem Internisten an den Latz pappen, wenn sie sprechen könnte. "Soll ich jetzt ewig hier auf der Intensiv-Station bleiben?", wundert sie sich schon viele Tage. Sie hat den Höhepunkt ihrer Ganzkörper-Lähmung mit ausgezeichneter Hilfe der Mediziner und Pflegepersonal hinter sich und befindet sich spürbar auf dem Weg der Regeneration.

 

 

Manchmal hat sie das Gefühl sie kann hören, wie ihre Nervenleiter neu wachsen und erwachsen werden. Es sieht zwar alles gleich aus wie zuvor, aber es ist nicht mehr dasselbe. Sie mag ihn einfach nicht, egal, ob ihr hier das Leben gerettet wurde oder nicht. Jeden Morgen liegt wieder eine der giftigen Tabletten auf dem Frühstücks-Tablett.

 

 

Sie hat auch schon gesehen, wie diese dann ins beliebte Jogurt gesteckt wurde, damit Lilly dieses Ding in ihren Körper schleust. Sie wünscht sich schon sehnlichst, dass der Horror zu Ende geht, sie endlich wieder ein Fitnesscenter von innen sieht. Diese Personen wollen ihr ernsthaft erklären, dass diese Medikamente ihren Magen schonen und sie von eventuellen depressiven Stimmungen befreien, die das Absetzen der Tiefschlaf-Medikation bewirken kann.

 

 

"Wollt ihr mich veralbern? Ein chemisches Produkt soll meinen Magen schonen und ich hab auch keine Depri. Im Gegenteil. Ich bin happy, weil das alles hier bald ein Ende nehmen wird.", führt sie ungehörte Gespräche mit den Personen rund um sie, in diesem einsamen Raum der Intensiv-Station. Lilly freut sich jeden Tag auf ihr Frühstück, als wäre Auszahlungstag ihrer Weihnachtsprämie.

 

 

Es gibt ein Glas Wasser, Tee, Apfelmus, Jogurt. Dank der physiotherapeutischen Übungen an der Feinmotorik, ist sie nun schon selbst in der Lage, den kleinen Löffel kurz zwischen ihre Fingern zu klemmen und - zwar wackelig aber doch - diesen mit dem leckeren Fruchtjogurt bis zum Mund, manchmal auch in den Mund hinein zu führen, was voraussetzt, das sie es rechtzeitig bewerkstelligt, diesen zu öffnen. Sie will mehr. Mehr Essen. Mehr Trinken.

 

 

Sie will ihr vegetatives System wieder anregen, sich wieder lebendig fühlen. Die Freude über Mahlzeiten ist unvorstellbar groß, denn feste Nahrung ist der Schlüssel zur Freiheit. Beim "Essen", gafft sie eine Frau in weißem Kittel an. Sie lächelt manchmal und tut, als würde sie Lilly kennen.  Sie spricht von Sedierung und wirkt auf Lilly, als würde sie bemitleidet, oder bedauert werden von ihr, wozu es nicht den geringsten Grund gibt, denn wem könnte es besser gehen, als ein Mensch, der wie neugeboren eine Gesamtkörperlähmung überstanden hat, bald schon in ein neues Leben starten wird.

 

 

Was die Personen um sie herum nicht wissen ist, dass sie seit der Begegnung mit dem persischen Primar, nur an die erste Augustwoche denkt, und ihr alles, was es braucht, um dahinzukommen ein Mittel zum Zweck ist, auch die Personen, denen sie hier in dieser temporären Situation begegnet. Eigentlich ist die Frau zu bedauern, denn sie bleibt hier. Lilly nicht.