guillain-barré-syndrom

 

 

 

Einmal hat sie zwei Schwestern zugehört, als diese über GBS sprachen, also das Guillian-Barré-Syndrom, was der romantische Name dieses Virus ist, ihre Nervenzellen-Leiter auffrisst und sie somit zu dem gefühllosen und nutzlosen Brocken Fleisch und Knochen gemacht hat, der sie gerade ist. "Da hat man jahrelang keinen GBS-Patienten und dann gleich zwei hintereinander. Der letzte ist aber nach einer Woche wieder hier rausgegangen, bei dem wurde das nicht so extrem.". Sie checken die Körperwerte, wechseln die Infusionen.

 

 

Lillys Unterarme inzwischen beide der ganzen Länge nach zerstochen. Egal, es kann sie ja nicht mehr beim Abwinkeln stören. "Einer hat die andere Variante erwischt.", sagt die eine Schwester zur anderen. "Und?", sie werfen ein frisches, dünnes Laken über Lillys Körper. "Ja, da hat sich nichts mehr regeneriert, der ist Pflegefall für immer.".  An Lillis Unterarm und Unterschenkel erheben sich die Körperhärchen. Es scheint, als hätte diese Aussage Respekt und Freude gleichzeitig hervorgerufen.

 

 

Es gibt bei GBS zwei Varianten: bei dem einen regenerieren sich die zerstören Nervenleiter wieder, bei dem anderen leider nicht. "Glück im Unglück", denkt sich Lilly und triumphiert innerlich. Sie sehnt schon den Tag herbei, wo sie wieder eigenständig bei Hitzewetter in die gekühlte Getränkeabteilung eines Lebensmittelladens gehen kann, zu einem leckeren Getränk, zB so einen Erdbeer-Buttermilchshake oder einfach eine Apfelschorle, greifen, den Deckel selber aufdrehen und mit dem Kopf im Nacken aus dieser Flasche trinken kann.

 

 

Noch mehr freut sie sich auf ihr verehrtes Fitness-Center, die tägliche Stunde für ihre Gesundheit, Aussehen und Lebensfreude. Manchmal war sie sogar zweimal am Tag dort, da es vormittags eine Betreuung für die Allerkleinsten gab - die, die noch nicht in einer Kita waren, aber schon mal 50 Minuten zufrieden unter ihrem Spieleturm liegen können, mit den schwingenden Figuren beschäftig ausreichend beschäftigt sind und ein wenig herumkrabbeln.

 

 

Die Diagnose kennt sie ja jetzt schon: GBS. Es hat länger gedauert, weil der scheinbar so winzig ist, dass erst ein Labor in der Universitätsklinik in Wien, mit 100%iger Zuverlässigkeit definieren konnte, um was es sich handelt. "Wie sieht es mit einer Prognose aus?", überlegt Lilly, was es denn jetzt genau für sie heißt, dass sie dieser hinterhältige Virus befallen hat. Die Antwort folgt prompt. Ein Arzt, der in der einen Hand die Mappe mit den Labor-Ergebnissen hält, in der andren den Türgriff, dessen dunkler, persischer Teint, die blitzweißen Zähne mit seinem schneeweißen Kittel um die Wette strahlen lässt:

 

 

"Dauer? 4-6 Wochen. Heilungschance? 80 bis 100 Prozent.". Lilly hat keine offene Frage mehr im Kopf. Sie kann damit leben, vielleicht mit einer hängenden Lippenseite nicht Schmunzeln zu können. Sie hat eine Aussage und mit der kann sie etwas anfangen. Ab jetzt wird auf das Ende dieses Fegefeuers fokussiert: Die erste Augustwoche.