feurige lungenentzündung

 

 

 

Das rechte Lid lässt sich nur mit manueller Hilfe ganz schließen. Bis jetzt konnte sich Lilly erfolgreich vom Eintropfen künstlicher Augenflüssigkeit drücken. Sie wartet schon sehnsüchtig auf die Verlegung von diesem langen Aufenthalt in der Intensivstation in gemäßigtere Gefilde. Sie hat die totale Abschottung auch genossen auf irgendeine Art und Weise.

 

 

Endlich konnte sie warten, was für Impulse eigentlich rein von ihr ausgehen, ohne jemandem verpflichtet zu sein oder für dessen Leben Verantwortung zu tragen. Sie dachte eher an etwas Heroisches, aber was kam, war einfach der Wunsch, wieder zu einer kleinen Apfelschorle-Flasche greifen zu können und sie im Stehen auszutrinken.

 

 

"Worst-Case-Alarm!" Durch das oftmalig erforderliche Wechseln des "Luft-Zapfhahns" in ihrem Hals und Einführen des Absaugschlauches bis in die Brustgegend zum Reinigen der verschleimten Bronchien, drangen Lungenentzündung-auslösende Keime in Lillys Körper.

 

 

Es passiert jetzt genau das, was auf keinen Fall passieren soll - Lungenentzündung! Lillys Oberkörper verlangt plötzlich nach einer dickeren Decke und nach mehr Wärme, nachmittags jedoch befällt das Gegenteil den Organismus: der malträtierte Body verlangt nach einem dünnen Leintuch als Überwurf, die Beine werden unruhig, versuchen sich abzukühlen, die Atmung - oder was noch davon übrig ist - tut das Übrige, mit Schleim und schmerzhaftem Abhusten.

 

 

Lillys Körperteile führen sich auf, wie ein bunter Jahrmarkt: jeder zieht in eine andere Richtung, alles dreht sich gegeneinander zur gleichen Zeit. Sie wacht nachts auf - vorausgesetzt, sie ist eingeschlafen - lässt sich aufsetzen und hustet. Es geht alles leer durch, ohne Kraft, ohne Brust, ohne Rücken - vom Rohr im unteren Halsraum durch die restliche Luftröhre, in die Bronchien, zum Zwerchfell.

 

 

Ihr Kopf steckt auf dem Körper, wie der eines Wackelhundes im Auto-Fond eines Daihatsu. Es gibt keine funktionelle Verbindung zwischen Nase und Mund, oberem Hals und dem restlichen Körper. Sie kommt sich ein wenig vor, wie Frankensteins Tochter. Auf der Shit-Liste steht hat dieser Zustand jetzt sehr große Chancen, die Facialis Parese auf Platz 4, die Sedierung auf Platz 3, den Kehlstich auf Platz 2 und die Apharese-Zyklen auf Platz 1 weit hinter sich zu lassen. Sie möchte dieses Husten, Absaugen, sowie das Gefühl, es zerreiße ihr innerlich die Brust, nicht lange aushalten müssen. 

 

 

Ihr Oberarzt huscht flink über den Gang, scheint seine Brutnester für die bereits auf dem Weg zur Hölle aufgelesenen, auf ihre Wiedergeburt und Entlassung in die Freiheit wartenden verkabelten, überwachten und beatmeten Körper, aus dem Augenwinkel unbemerkt abzuzählen, gebräunt, mit einer neuen Uhr am Handgelenk. Er sieht nicht schlecht aus für sein Alter, freche Art, sichere Bewegungen, hübsche Augen, markantes Gesicht, schöne Zähne, graue Schläfen und das Wichtigste, er kümmert sich jetzt erst mal um Lillys lichterloh brennenden Lungenflügel.